4.10.2011 – redigiert im April 2018
Es geht mir heute um die kommunale Solidarität. Was ist die kommunale Solidarität und was genau meine ich mit diesem Thema? Und warum habe ich den Titel erweitert um den Passus „Hoch lebe die Dokumentation“?
Kommunale Solidarität – im Fachjargon nennt man das auch Amtshilfe – war (leider muss ich das inzwischen so sagen) im öffentlichen Dienst sehr ausgeprägt. Und bevor ihr jetzt schlechtes denkt und Euch die von den Medien durch den Kakau gezogenen öffentlichkeitswirksamen Negativbeispiele ins Bewusstsein rückt, ich meine damit vor allem den Alltagsbereich, also die im normalen Berufsalltag auftretenden Geschehnisse, die ich im Folgenden genauer betrachten möchte.
Beispiel gefällig?!? Stellt Euch vor, der Kindergarten Eures Ortes ruft bei seiner für Reparaturen zuständigen Stelle in der Gemeinde an und gibt an, dass der Zaun nicht mehr intakt ist.
Es fährt also ein Mitarbeiter des Gebäude- und Liegenschaftsmanagements (so heissen die Stellen meistens) raus und wird den Zaun reparieren. Zuvor wird natürlich ein „Auftrag“ geschrieben, der nach der Abarbeitung dann mit den Arbeitsmitteln und Stundenaufwänden zusammengeführt wird, um danach eine Rechnungslegung auszuführen. Soweit so gut. Alles noch im normalen Bereich. Fatal und richtig abartig wird es dann, wenn es eine sog. interne Leistungsverrechnung gibt. Hoch lebe die Bürokratie.Bei der internen Leistungsverrechnung haben alle Geschäftseinheiten ein eigenes Budget, das z. B. auch die „Bezahlung der Dienstleistungen“ der eigenen Verwaltung umfasst. Wenn also ein Mitarbeiter der Verwaltung irgendeine Dienstleistung für einen anderen Geschäftsbereich erledigt, dann schreibt er diesem eine Rechnung und diese wird über die interne Leistungsverrechnung“ bezahlt“. Ich wähle hier deshalb Anführungsstriche, weil im Grunde genommen wird nur ein Mehr an Datensätzen fabriziert und Controlli8ngstellen können sich daran ergötzen. Wirklichen und sonstigen Nutzen hat dieses Spiel nicht. Vor allem bläht es die Finanzdatentableaus und dazugehörige Datensätze ungemein auf und mag ja ganz wichtig sein, ist es aber nicht.
Jetzt aber kommt der Mitarbeiter zum Kindergarten und die Kindergartenleitung lässt ihn wissen, dass noch ein Fenster klemmt und eine Aussentür nicht mehr so richtig schliesst.
Nun passiert im Rahmen der hier beschriebenen kommunalen Solidarität folgendes – der Mitarbeiter wird diesen Hinweis aufnehmen und den Auftrag gleich miterledigen, denn der Kindergarten gehört zu seinem betreuten Arbeitszuständigkeitsbereich. Denkt ihr?!! Weit gefehlt. Neue Steuerungsmodelle und damit zusammenhängende Effizienz- und Konrollroutinen verbieten in vielen Fällen die sofortige Ausführung der Mängelbeseitigung. Warum? Der Mitarbeiter hat keinen Auftrag. Er hat zwar das Werkzeug dafür, doch wenn er länger als vorberechnet arbeitet, dann wird er sich Fragen stellen müssen, die darauf abzielen, ihn „einzunorden“ in Bezug auf Effizienz und „Kommandostrukturen“ sowie Kostenabwicklung. Also tut er was? Richtig – er dokumentiert den Folgeauftrag. Und vielleicht ist die Verwaltung ja sogar so modern, dass die Kindergartenleitung im EDV-System den zusätzlichen Schaden bereits dokumentiert hat.
Der eigentliche hilfsbereite und solidarische Ansatz des Mitarbeiters, wie er ihn vielleicht schon jahrzehntelang gepflegt und erfolgreich und vor allem NICHT zum Schaden seines Arbeitgebers ausgeführt hat, wird ihm im o.a. Kontext dann schnell zum Vorwurf gemacht. Folge ist, dass er nicht gegen die ihm befohlenen Regeln verstossen wird, auch wenn er die Dringlich- und Machbarkeit durchaus erkennt und es unter den gewohnten Umständen auch gerne repariert hätte, wenn er denn schon mal vor Ort ist.
Und was zeigt uns das? Genau – hoch lebe die Dokumentation. Bürokratie in allerfeinster Ausprägung. Und es zeigt uns noch etwas. Statt den Schaden sofort zu beheben, wird Papier resp. Datenvolumen beschrieben. Der Schaden bleibt, doch er ist dokumentiert. Und – vielleicht auch nur am Rande – alle im System Involvierten finden sich mit diesem Blödsinn ab, denn die Dokumentation ist mit einem durch Sanktionen gekennzeichneten Bewertungssystem der Mitarbeiterschaft verbunden. Die bürokratische Kontrolle basiert auf einem Datenverwaltungssystem, das jeden Schritt der Kollegen dokumentiert und es zeigt dem Kontrolleti am Schreibtisch genau an, wenn so und so viele Fehlverhalten auftreten. Und das wiederum hat negative Konsequenzen für alle unter diesem Bürokratiejoch Beschäftigten. Meist sogar negative Folgen, wie z. B. im Bereich der sog. LOB (leistungsorientierten Bezahlung) im öffentlichen Dienst oder bei der Mitarbeiterbewertung, Teambewertung im privaten Sektor.
Solidarität auf Wiedersehen! Dieses Beispiel ist ein ganz reales und es geschieht immer wieder. Nicht irgendwo. Nein, hier! Im Landkreis Helmstedt. Doch es kann so auch an vielen anderen kleinen Orten geschehen – jeden Tag! Es geschieht nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, in der man bekanntermaßen lieber ein Stück Papier oder einen Datensatz mehr beschreibt, als dass man im Lebensalltag auftretende Geschehnisse schnell und direkt abarbeitet. Hoch lebe die Dokumentation! Es geschieht inzwischen in allen Tätigkeitsfeldern. Man dokumentiert lieber einen Pfurz und eröffnet damit einen bürokratischen Tätigkeitskontrollablauf, als dass man sich dem eigentlichen Problem mit der begrenzten Arbeitskraft widmet. Schaut euch im medizinischen Bereich, wie z. B. in den Kliniken, um. Ihr werdet schnell entdecken, dass sich die unter Totalstress stehenden Arbeitskräfte neben ihrem eigentlichen Job noch mit der Dokumentation beschäftigen müssen. Und das in einem Ausmaß, dass dadurch die Pflege und damit Genesung sogar ins Hintertreffen gerät. Und alle finden sich damit ab. Warum, weil irgendein verquerer Datenfetischist einen auf Welle macht! Leute, das sind CIA-Methoden, STASI lässt grüßen oder, um es noch treffender zu sagen – GESTAPO. Alles unter Kontrolle! Doch zu welchem Preis?
Zahlen, Controlling, Effizienz sind Instrumente der Bürokratie. Damit wird kein einziger Zaun, kein einziges klemmendes Fenster, keine einzige nicht schliessende Tür repariert, kein Patient trockengelegt und neu mit Verbänden versorgt! Aber es werden die eigentlichen Arbeiternehmerschaften zu Erfüllungsgehilfen der Schreibtischherrscher (Bürokraten). Und genau dabei geht die Solidarität über die Schunter (ich pflege, einheimische GEwässernamen zu verwenden, da die Wupper bekanntermaßen mehr im Westen liegt). Dokumentation, das möchte ich hier noch einfügen, ist dort wichtig, wo es um die Anfertigung komplexer technischer Produkte geht! Denn hier sind Qualitäts- und Fertigungskontreollen unabdingbar, um am Ende ein funktionierendes Konstrukt oder Produkt zu generieren. Dass es trotz aller Dokumentations- und Kontrolleuphorie dann doch nicht funktioniert, das belegt auf sehr anschauliche Weise der Bau den neuen Berliner Flughafens. Wenn die Verantwortlichen es fertig bringen, einen Flughafen zu bauen, wo bei der End- oder Zwischenabnahme dann festgestellt wird, dass z. B. die Leitungen für die Sprinkleranlagen fehlen, da fehlen einem dann einfach nur die Worte und vor allem konterkariert dieser einzelne Fall auf anschaulichste Weise, dass Dokumentationspflichten nicht auch gleichzeitig eine Verbesserung der Arbeitsqualität mit sich bringen.
Wenn Zahlenwerke und Bildschirmpräsentationen wichtiger sind als konkrete und solidarische Arbeit nach der freien Entscheidung der Betroffenen, dann läuft hier ein System völlig aus dem Ruder!
Wenn sich BürokratInnen über die eigentlich die Arbeiten ausführenden Menschen qua Funktionshierarchie stellen können, dann ist das genau der vielbesagte bürokratische Wasserkopf, den wir alle kennen und spüren, den wir aber nicht abschaffen wollen und können, auch wenn er uns tierisch nervt.
Warum kann man das anscheinend nicht aufhalten?! Dafür gibt es viele Gründe. Oftmals spielt dabei die Angst um den eigenen Arbeitsplatz eine Rolle, denn bei Nichtbeachtung der Effizienkriterien und der damit zusammenhängenden Arbeits- und Ausführungsanweisungen qua Dokumentation können durchaus disziplinarische Massnahmen drohen. Wer will das schon?! Deswegen passen sich die meisten Menschen an und machen, was vorgegeben wird. Selbst wenn etwas schief läuft, sie werden es nicht mehr dokumentieren. Und das ist genau das, was im Nachhinein immer und immer wieder als die verusachende und eigentliche Fehlstellung diagnostiziert werden kann.
Und dabei gibt es dafür doch kaum einen Grund. Wenn man in solchen Systemen unzufrieden wird und die fehlende Solidarität oder – noch viel schlimmer – der berufliche Ethos – abhanden kommt, dann stehen wir vor einem gigantischen gesellschaftlichen Problem, denn wir frönen eher dem Dokumentationsgötzen als dass wir genau hinsehen und handeln, weil eben Not am Mann ist oder weil einfach nur eine nicht schliessende Tür kurz repariert oder bei einem Patienten der durchsuppenden Verband erneuert werden muss.
Wir erleben im beginnenden Jahrtausend eine Wendezeit, ganz gleich in welche gesellschaftlichen Bereiche wir sehen. Beispiel. Vor knapp 30 Jahren nur begann die grüne Revolution mit ein paar langharigen Blümchenpflückern, die als Müslis, Birkenstockies usw. tituliert wurden. Und heute? Heute sehen wir überall die Einkehr von Windrädern, Brennstoffzellen, regenerativer Energieerzeugung, Verwendung nachwachsender Rohstoffe und und und! Und genau diese Bereiche werden dazu führen, dass es einen enormen Fachkräftebedarf gibt in unserem Land. Menschen mit jedweder Ausbildung, vor allem aber in den technikorientierten, interdisziplinären Bereichen werden in Massen benötigt. Arbeit bekommt eine völlig andere Bewertung. Arbeitskräfte werden gesucht und umworben. Wenn dann noch das Prinzip der Solidartität über die Bürokratie in der oben beschriebenen Form obsiegt, dann macht Arbeiten auch richtig Spaß. Und wenn Arbeiten Spaß macht, dann haben Menschen viele sehr gute Ideen und bringen sich persönlich ein. und das bedeutet, dass damit einer der wichtigsten Grundlagen für Innovation gelegt wird! Denn genau so entstanden diese neuen Technologien. Sir wurden eben gerade NICHT in einer durch und durch dokumentierbaren Zwangsjackensituation gemacht, sondern in einer freien Umwelt. Sie war deshalb frei, weil es nicht für jeden Lebens- und Gesellschaftsbereich irgendein Beraterkonstrukt, irgendeine Instituionalisierung, irgendeine Dokumentationshierarchie gab. Die Menschen konnten sich mehr oder minder frei in ihren Zielsetzungen entwickeln und haben dadurch eine technologische Revolution ins Laufen gebracht, die uns heute m. E. sehr viel nützt. Entwicklung, auch die technologische hat immer auch mit der Freiheit der Schaffenden zu tun. Wenn ich deren Tatendrag durch Dokumentationszwangsjacken einenge, dann wird die Schaffenskraft zum Erliegen kommen.
Wenn die Beschäftigungssysteme dem Joch einer dokumentationszentrierten Bürokratie untergeordnet werden, dann wird Arbeiten zur Belastung. Tausende Burn-out-PatientInnen und übervolle Therapieeinrichtungen belegen, dass wir Zeugen werden, dass genau das von statten geht. Dokumentationen, Meetings, Zielerreichungen auf Teufel komm ´raus, Präsentationen in allen nur erdenklichen Farben, Gremienarbeiten, Effizienzdokumentationen und und und, sie lenken von der eigentlichen Arbeit nur ab und sie zwägnen die Menschen in ein Handlungskorsett, dass sowohl die Solidarität und damit Kreativität im Miteinander als auch die Problemlösungsinitiativen droht zu beseitigen.
Ich finde diese Entwicklung kritisch, denn das arbeitstechnische Umfeld ist das Umfeld des direkten Austauschs mit Mitarbeitenden, mit Mitmenschen aus den verschiedensten Bereichen. Wenn hier verkompliziert, also nur noch dokumentationsorientiert vorgegangen wird, dann fallen die vielen kleinen Hilfestellungen weg und darunter leiden dann wir alle mehr oder minder direkt oder indirekt. Und es wird das Menschliche, das besondere Menschliche, eben die Solidarität, Kollegialität und Hilfsbereitschaft untereinander erodiert, was m. E. einem Betrieb, einer Insitution nicht nur finanziell schadet, sondern auch rein fachlich betrachtet. Wenn man sich opportune Jasager, egomane Karrieristen, Schauspielertalente durch eigene Handlungszwänge geradezu erzieht, dann besteht die Gefahr, dass einem das gesamte System über kurz oder lang um die Ohren fliegt. Schlimmer noch, solche Szenerien können sich durchaus über Jahre hinweg verfestigen und wenn dann der Big-Bang kommt, dann will es keiner gewesen sein, trotz eines nicht mehr schön zu redenden Gesamtschadens.
Das ist nicht in Ordnung! Und ich moniere diese Szenarien und versuche in meinem Beruf, dieses Phänomen darzulegen, um die erkennbare Einbahnstraße zu beseitigen. Allerdings mit herzlich wenig Erfolg, denn anscheinend ist das Bürokratiemonster und seine Dokumentationsgötze die heilige Schrift des Berufsalltags geworden. Etwas abzuschaffen, was Blödsinn ist, bedeutet eben auch oder vor allem, sich gegen sogenannte Regeln zu wehren. Und genau das passiert nicht, denn es verhindert Karrieren, es beendet sie sogar. Beispiel? Der Abgasskandal! Das ist ein sehr anschauliches Beispiel, wie ein Dokumentationsmolloch durch Manipulation (hier von oben abgesegnete Zielfestlegungen und Handlungsszenarien) zu einer völlig entarteten und aus dem Ruder gelaufenen Krise geführt hat. Natürlich werden wir davon nur ganz wenig Genaueres erfahren, denn dieser Molloch wird erneut manipuliert und die Arbeitnehmerschaften werden erneut beweihräuchert mit neuen Zielsetzungen und ggf. geschönten Informationen. Brot und Spiele – ein alt bekanntes Muster. Und wer sich nicht daran hält, wird eben – auch nach einem vorgegebenen und uralten Schema – aus dem System genommen. Das ist gerade erst geschehen.
Ich bleibe dabei!
So kann es nicht gehen. Wir können uns nicht anmaßen, dass der Bürokratie-Dokumentationsmolloch unseren Alltag bestimmt und zudem noch möglicherweise krank macht und durch kritische Mitarbeiter durch perfide Sanktionsmaßnahmen zum Schweigen bringt! Diese Version ist die völlig falsche! Und es ist die völlig falsche Richtung, dass ein Mitarbeiter unverrichteter Dinge seines Wegs geht nur weil er keinen dokumentierten Auftrag für die sich kurzfristig einstellenden Mängel und deren Beseitigung hat. Oder er oder sie sich, dank eines durch und durch auf sog. Effizienz getrimmten und bei entsprechenden „Fehlverhalten“ mit Sanktionen drohenden Bürokratiemollochs, lieber anpasst und nicht auf Fehlstellungen des Systems in dem er oder sie arbeitet hinweisen kann.
Und zum Ende, dann nämlich wenn durch welche Begebenheiten auch immer, so ein Molloch aufgedeckt wird, zeigen alle mit den Fingern aufeinander – keiner ist es gewesen! Und der Molloch und seine Dienerschaften werden dank eines durch und durch manipulierbaren Dokumentationsdatensatzes auch immer jemanden finden, der dann Schuld ist. Es geht dabei nicht mehr um die Sache als solches, sondern darum, herauszuklabüstern, wer was wann „falsch“ gemacht hat. Es geht nicht darum, Fehler zu melden und dann abzuschalten, wenn es nach der manipulierten Normenklatura ja gar kein Fehler ist! Der- oder diejenige, die Kritik äussert und diese dann vielleicht sogar „dokumentiert“ wird schnell wieder „geradegerückt“, angepasst, sanktioniert oder eben einfach nur herausgeworfen. Das erinnert wie bereits o.a. auf eklatante Weise an GESTAPO-, STASI-, CIA-Systeme. Und diese sind allesamt extremst menschenfeindlich und schädigen sogar nachhaltig ganze Gesellschaften.
Ich empfinde das einfach als völlig daneben und denke, da hat jeder mindestens ein eigenes Beispiel aus eigener Erfahrung und oder eigenem Erlebnis in seiner oder ihrem beruflichen Alltag. Vielleicht kann dieser kleine Beitrag etwas wachrütteln, und sei es nur einen winzig kleinen Moment. Das wünsche ich mir.
Nun – hoch lebe die Dokumentation! In diesem Sinne, seid´gesegnet!